Lebenswert

Was macht ein Leben lebenswert? Auf diese Frage gibt es für jeden eine andere Antwort. Vielleicht bleibt die Antwort ein Leben lang dieselbe, wenn man sie erst einmal gefunden hat. Vielleicht verändert sie sich im Laufe eines Lebens. Einmal oder mehrfach.

Ich war in diesem Jahr so häufig in der Notaufnahme wie nie. In der Vergangenheit wurde mir oft gesagt, ich sollte meiner Krankheit mehr Aufmerksamkeit schenken. Vielleicht kam es oft so rüber, als würde ich leugnen, dass ich krank bin. Eine chronische Krankheit zu leugnen ist etwas völliges anderes, als diese nicht zum Mittelpunkt des eigenen Lebens zu machen. Ich war – und bin es immer noch – der Meinung: Genau das versuche ich mein Leben lang. Meiner Krankheit nicht zu viel Raum zu geben. Wenn ich dann in der Klinik, beim Neurologen, Psychologen und Physiotherapeuten hänge, komme ich mir immer ein wenig multipel vor. Einerseits versuche ich, meine Krankheit nicht meinen Alltag bestimmen zu lassen. Andererseits muss ich im Alltag andere immer wieder von meinen nicht sichtbaren Einschränkungen überzeugen. In der einen Woche habe ich meine Krankheit beinah vergessen. In der Nächsten habe ich an 4 von 5 Tagen Termine bei Fachärzten.

Es sind die eher kleinen Dinge, die mir oft Schwierigkeiten bereiten. Aus der Dusche ein- und aussteigen. Badewanne kann ich knicken, weil die meist zu hoch sind. Obwohl Baden für meine verkrampften Muskeln eine Wohltat ist. Treppensteigen fällt mir schwer. An diesem Freitag hatte ich mit meinem Freund einen Besichtigungstermin für eine Wohnung. 3. Stockwerk, Waschmaschine im Keller, die Treppen im Hausflur gehen ums Eck. Die Badewanne zu hoch. Die Wohnung hat uns beiden sehr zugesagt. Aber es geht nicht. Es ist mir nicht unmöglich, diese Treppen runter zu laufen, aber es bereitet mir Schwierigkeiten. Ich merke vor dem ersten Schritt, ob mein Körper mich heute mit einer guten oder eher weniger guten Portion Gleichgewicht ausgestattet hat. Wenn das Gleichgewicht weniger gut ist, komme ich die Treppe nicht ohne Probleme runter. Die Waschmaschine steht im Keller? Blöd, ich kann den Wäschekorb nicht die Treppe runter tragen. Klar, ich kann eine Tragetasche nehmen. Es gibt für fast alles eine Lösung. In meinem Zuhause allerdings möchte ich mich so normal fühlen wie möglich. Das Normal, so wie ich es für mich selbst definiere. Und dazu gehört zu einem sehr großen Prozentsatz meine Selbstständigkeit. Ich möchte ohne fremde Hilfe duschen, baden und die Wäsche machen können. Solange es irgendwie geht, möchte ich in meinem Alltag so wenig wie möglich von anderen abhängig sein. Vielleicht klingt das dekadent, aber mir ist das ein tiefes Bedürfnis, bei dem ich kaum Kompromisse mache.

In den letzten 2 Jahren musste ich meine Selbstständigkeit ein Stück weit aufgeben. Vor 4 Wochen hatte ich einen Krankenhausaufenthalt, der mich in diese Realität zurückgeholt hat. In die Realität, dass meine chronische Krankheit nicht verschwindet und es passieren kann, dass es mir schlechter geht, als noch vor ein paar Monaten. Chronisch Kranke sind vielleicht noch ein Stück weit mehr als gesunde Menschen gezwungen, Ihre Selbsteinschätzung zu korrigieren. Ich habe oft das Gefühl, dass ich mich selbst neu finden muss, wenn sich die körperlichen Gegebenheiten verändert haben. In der Zeit des Neufindens verzweifele ich oft. Ich suche Lösungen für meine neue Situation und manchmal scheint keine da zu sein. Dabei steht mir oft meine Ungeduld im Wege. Ich möchte am liebsten alles auf einmal und das sofort. Gerade wenn es um meine Fähigkeiten geht. Und meinen viel zu hohen Ansprüchen möchte ich dabei auch noch genügen. Funktioniert natürlich super. Nicht. Dabei komme ich irgendwann an den Punkt, an dem ich innehalte und versuche mich daran zu erinnern, dass nur ich und niemand sonst diese Erwartungen hat. Dass ich die Erwartungen der Ärzte seit Jahren weit übertreffe. Dass ich aus medizinischer Sicht nicht das Leben führen könnte, wie ich es tue, weil meine Krankheit und dessen Folgen stärker ausgeprägt sein müsste.

Dann mach ich mir klar, dass ich mit alldem ein normales Leben führe. Nach meiner Definition. Besser noch. Ich führe ein gutes Leben. Ich bin lebenswert. Mein Leben ist Lebenswert. Und es lohnt sich immer wieder, diesen Begriff für sich und sein Leben neu zu definieren. Denn nur weil unser Leben augenscheinlich anders ist, ist es nicht schlechter.

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